KELLER

 

Hastig blickt er auf die Uhr. Wieder einmal scheint die Zeit sich selbst zu überholen. Schnell, leichtfüßig schwingt er sich die klebrigen Stufen hinab in den Keller. Noch ein letzter Blick hinter die feuerfeste Eisentür. Schon die erste Berührung seiner Augen, wenn sie gebannt über die Wände wandern, der Blick auf das kalte Glitzern der Haken und Scharniere, haucht ihm ein zum Grinsen mutierendes Lächeln in die faltigen Wangen. Schade dass es schon so spät ist, denkt er. Wie gerne würden jetzt seine Hände ganz sanft über das Metall dieser wunderbaren, strahlenden Ketten, der schwarzen Ringe und der Eisenbeschläge gleiten. Welch ein Genuss wäre das jetzt, wenn der kalte Stahl seine Träume lockt und ihm dabei das Blut in die Augen steigt. Nein, keine Zeit, zu spät. Schade… 

Die Dorfstrasse stöhnt unter den durchdrehenden Rädern, und die Umrisse der Häuser huschen an ihm vorbei. Wen stört das schon in dieser halbtoten Gegend. Und diese erbärmlichen, blütenweißen Gardinen der biederen Fachwerkhäuser. Sie bewegen sich immer wenn er vorbei kommt. Sein flüchtiger Blick nach links oder rechts genügt, und schon schließt sich der gaffende Spalt des dünnen Stoffes, und die Schatten dahinter verkriechen sich wieder auf ihre abgeschabten Sofas, die ihren Hintern selbst den letzten Muskel rauben. 

Gleich wird sie dort stehen, am Flughafen, erwartungsvoll. Es soll ein herrliches Wochenende werden. Sie kennt ihn eigentlich nicht, aber hat er nicht die gleichen Vorlieben wie sie? Er taucht Gedanken in Fässer der Poesie, und seine Stimme, seine Worte am Telefon schenkten ihr eine gewisse Art von Vertrauen.

 Gleich wird sie dort stehen, denkt er, während er abwesend über die Autobahn gleitet. Dieser Gedanke erregt ihn, er kann sie spüren, diese Erregung, ja - richtig spüren. 

„Mädchenmörder“, schießt es ihm durch den Kopf. Wieder lächelt er. Diesmal ist es nicht dieses Grinsen, wie es der Augenflug über die Wände seines Kellers in ihn gezaubert hat. Nein, dieses Lächeln jetzt ist sanft, zärtlich, fast liebevoll. Mädchenmörder.  

Sie hatte mir ihren Freundinnen darüber geflachst. Wie kannst du zu ihm fahren, hatten sie gefragt. Du kennst ihn doch überhaupt nicht. Bis sie schließlich alle drei in schallendes Gelächter ausbrachen und beschlossen, gemeinsam zum ihm zu fahren, um ein ganzes Wochenende zusammen ihre Leidenschaft zu genießen. Diese Leidenschaft, Worte der Poesie wie tausend kleine, schwerelose Drachen aufsteigen zu lassen und sie den Menschen, die es mögen in die Seelen zu küssen, und wie zärtlichen Tau in die Ohren zu streicheln. Ja, das würde eine wunderbare Zeit. Sie, sie würde schon am Vorabend zu ihm fahren. Wieso denn nicht. 

Das überdimensionale Flughafenschild weckt ihn aus seiner Vorfreude. Auch wenn er nur ein einziges Foto hat, er wird sie erkennen, er wird sie riechen, von weitem schon. Seine Hände fangen langsam an mehr und  mehr über das Lenkradleder zu rutschen. Feucht sind sie, kalt und feucht.

 Die Fahrt zurück ist stumm, für ihn stumm. Sie reden, sie lachen, aber er hört sie nicht. Die Worte die an seine Ohren dringen, und sich wie Echos zu Antworten in seinem Mund formen könnten auch von einer abgenutzten, tausendmal gespielten Kassette stammen. Seine Gedanken küssen schon längst diesen süßen Schmerz, stürzen sich in die Schreie der Augen die ihm so viel neue Kraft geben werden, wenn er jede einzelne ihrer Tränen wie süßen Nektar aufsaugen wird… Da ist sie wieder, strahlend und so verführerisch, diese Königin der Erregung, tief in ihm. 

Längst sind die strahlenden Gardinen im Dorf, hinter  herabgelassenen Rollläden  verschwunden, als sie langsam durch die verstummten Straßen auf sein Haus zu fahren. Irgendwie leuchten ihre Augen, denkt er, und dieses sanfte Lächeln das ihre Lippen umspielt. Anfänglich war sie so zögerlich, doch jetzt? Ja, er ist sich sicher, es ist ein Strahlen in ihren Augen. Das Pochen in ihm, das schon die ganze Rückfahrt immer stärker durch jede Zelle seines Körpers trommelte, drückt ihm jetzt wie ein Amboss auf den Brustkorb, und dennoch, es ist dieser so wundervolle Moment, wenn die Erwartung wie ein in eine Streichholzschachtel gezwängter Ozean zu bersten droht. 

Er öffnet die Haustür, und in diesem Moment ist auch ihr letztes, ohnehin schon federleichtes Misstrauen verflogen, denn zwei sanfte, trübe aber unendlich beruhigende Augen schauen ihr entgegen, Augen die Freude ausdrücken, wie der wedelnde Schwanz und das etwas schwerfällige, aber beruhigende Tänzeln. Die Begrüßung durch seinen alten Hunde legt sich wie ein sanftes, vertrautes Ausatmen über die ihr unbekannte Umgebung. 

Fast lautlos fällt die Tür hinter ihnen ins Schloss. Das leise Klicken des sich drehenden Schlüssels kann er selbst kaum hören, aber er spürt das langsame Kratzen des Metalls, bis der Schlüssel unbemerkt in seiner Hosentasche verschwindet. Die Enge des Stoffes ist willkommene Gelegenheit, seinen Händen den Schweiß zu nehmen

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Wie ein Echo tanzt diese unbekannte, sich ständig wiederholende Melodie in ihm. Zwei, drei Sekunden, und wieder aufs Neue, immer lauter, bis er benommen die Augen öffnet. Mit unsicheren Schritten folgt er den Klängen. Die grelle Mittagsonne lässt es nur zögernd zu, dass seine Blicke sich schärfen. Ein seltsam wohliges Gefühl steigt in ihm auf, als er, ihr noch immer summendes Handy in der Hand hält. 

Menü – Optionen - entgangene Anrufe: „sieben Anrufe in Abwesenheit“… 

Lächelnd und zufrieden streift er seine Handflächen an seinen Hosenbeinen. Zu trocken sind die dunklen Flecken, zu trocken um zäh und reinigend in den Stoff zu tauchen. 

So als würde er seine Lieblings-DVD noch einmal, aufgeregt und erwartungsvoll abspielen, folgt er den Spuren der Nacht, die wie ein Gemälde den Boden schmücken, bis er mit einem leisen Seufzen die Kellertür öffnet.